Gerechtigkeit im Diagramm

Vier exogene Gerechtigkeitsvarianten


Aufbereitete Wiedergabe von „Öffentliche Finanzen in der Demokratie“, Charles B. Blankart, 3. Auflage, München 1998, S. 82-85.

Achsen: Auf den Achsen sind die kardinal messbaren Nutzen von zwei Individuen 1 und 2 abgetragen, die zusammen die Gesellschaft bilden.

Ausgangpunkt: N = Zustand ohne Umverteilung, beide Individuen arbeiten gleich viel und realisieren daraus unterschiedliches Einkommen, dem ein unterschiedlicher Nutzen A und C entspricht. Der Unterschied erklärt sich daraus, dass Individuum 1 produktiver ist als Individuum 2.

Umverteilungsrichtung: Umverteilung von Individuum 1 mit höherer Produktivität zu Individuum 2.


N – Gerechtigkeitsvariante von R. Nozick und den Naturrechtsphilosophen: Jeder Mensch soll ein unveräußerliches Recht an den Früchten seiner Anstrengungen haben. Dazu wird regelmäßig gefordert, dass die Startbedingungen gleich sein müssen.
Umverteilung von N nach B bedeutet, dass Individuum 1 sein Streben nach Einkommen etwas einschränken und damit trotz Freizeitgewinn einen geringeren Nutzen erzielen wird, dafür wird Individuum 2 zunächst überproportional bessergestellt.
B – Gerechtigkeitsvariante von J. Bentham: Die Summe der Nutzen aller Individuen gilt es zu maximieren. Unter den Bedingungen, dass sich a. Nutzen kardinal messen lässt, b. bei gleichen und abnehmenden Grenznutzenfunktionen des Einkommens, c. konstanter Bevölkerung und d. konstantem Sozialprodukt ergibt sich die Forderung nach einer Einkommensgleichverteilung. Der Gesamtnutzen steigt dann nämlich stets, wenn Einkommen von Reich zu Arm umverteilt wird.
Umverteilung von B zu R solange bis die bestehende Ungleichverteilung voll dem ärmeren Individuum 2 zugutekommt.
R – Gerechtigkeitsvariante von J. Rawls: Nach seinem Maximinkriterium ist eine Ungleichheit nur dann gerecht, wenn dadurch die Ärmsten der Gesellschaft bessergestellt werden. Unter der Bedingung eines konstanten Umverteilungsvolums läuft dies auf eine Einkommensgleichverteilung hinaus.
Von R zu M nehmen die Arbeitsanreize bei Individuum 1 so stark ab, dass das Umverteilungsvolumen wieder zurückgeht.
M – Gerechtigkeitsvariante von K. Marx: Er ist der Auffassung, dass jeder Mensch Güter und Dienste nach seinem Bedarf erhalten soll. Hier wird unter gleicher Bedarfsbefriedigung gleiche Nutzenverteilung unter allen Individuen verstanden. Dies lässt sich dadurch erreichen, dass Einkommen im Prinzip gleich verteilt wird.
Von M zu A nimmt die Arbeitsabstinenz von Individuum 1 zu bis letztlich bei einer Besteuerung von 100% dieses aufhört zu arbeiten.

Endogene Gerechtigkeit

Welche Gerechtigkeitsvariante passt zur ökonomischen Analyse und zum modernen homo oeconomicus? Das ist die, denen alle Individuen zustimmen würden. So wäre Gerechtigkeit individuell legitimiert, so wie es der methodologische Individualismus methodisch fordert. Zum Kern der ökonomischen Analyse gehört es nun auch, dass die pluralistischen, individuellen Interessen und Nutzenvorstellungen unangetastet bleiben, insofern – und ganz nüchtern auf Basis unserer Alltagserfahrungen – wäre es abwegig zu glauben, man könne sich einstimmig auf eine Gerechtigkeitsvariante einigen. Und nun?

Wahrscheinlicher wäre es schon eher, dass sich die Individuen nicht auf konkrete Gerechtigkeitsvarianten einigen, gleichwohl aber auf Regeln, die gelten sollen, um darüber zu entscheiden – zum Beispiel die Mehrheitsregel.

Spielen wir dies einmal mit Hilfe von Charles B. Blankart durch („Öffentliche Finanzen in der Demokratie“, Charles B. Blankart, 3. Auflage, München 1998, S. 89-91, auch in der aktuellen, 9. Auflage)



Sozialprodukt = 100 GE (Geldeinheiten)
Vorschlag 1 beliebig, z.B.: Jeder erhält 33,33 > Ablehnung Vorschlag 1 durch Koalition von A und B

Vorschlag 2 von A und B : 50 / 50 / 0 > C bietet B mehr als 50 > Ablehnung von Vorschlag 2

Vorschlag 3 von B und C : 1 / 60 / 39

An diesem Beispiel zeigt sich, das was Kenneth Arrow mit seinem Unmöglichkeitstheorem bewiesen hat: Es gibt keine Regel, die die Anforderung an eine ökonomische Analyse erfüllt – auch die Mehrheitsregel verfehlt.

Fazit: Es besteht ein grundlegendes Gefangenendilemma der Gerechtigkeit. Wie illustriert stellen sich Individuen durch individuell rationales Verhalten gemeinsam schlechter, dahingehend, dass sich die Spielregeln der Gerechtigkeit – überspitz formuliert – willkürlich ändern. Willkür wiederum ist das Gegenteil von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit braucht ein verlässliches Vertrauen darauf, dass bestimmte Spielregeln stabil bleiben. Sich ständig ändernde Spielregeln, sind keine Regeln mehr. „Von Gerechtigkeit ohne Regeln zu sprechen wäre sinnlos“, so Blankart. Er zieht das Fazit: „Wenn Gerechtigkeit innerhalb von Regeln eine praktische Bedeutung haben soll, dann müssen diese Regeln schon in der Verfassung näher konkretisiert werden“. Dies wäre eine glaubhafte Selbstverpflichtung. Dafür bräuchte man zwei Drittel der Mitglieder des Deutschen Bundestages, kann das gelingen?


KOOP-Kernaussage

Ja, in einer Demokratie kann es gelingen, eine Dilemmastruktur aufzulösen und sich gemeinsam glaubhaft selbst zu verpflichten:

Im Themenbereich des öffentlichen Finanzwesens kann die Schuldenbremse (Artikel 109) als Spielregel verstanden werden, mit der eine glaubhafte Selbstverpflichtung auf Wirtschaftlichkeit in die Verfassung aufgenommen wurde, obwohl es individuell rational wäre, sich gegen diese Regel zu entscheiden. Mit ihr wird das Haushaltsvolumen verbindlicher als zuvor (Artikel 115) gedeckelt. Bei aller möglichen Kritik an der Schuldenbremse wird sie hier als Fortschritt bewertet. Es ist sehr bemerkenswert, dass es unserem demokratischen Gemeinwesen gelungen ist, eine Budgetbegrenzung als Voraussetzung für eine wirtschaftliche Haushaltsführung einzuführen, obwohl es individuell rational wäre, sich Kreditschlupflöcher zu behalten.

Und ja, es wird Zeit dem Gedanken der kontextuellen Ökonomie zu folgen:

Gerechtigkeit ist mehr als Verteilungsgerechtigkeit. Es gibt eine von materiellen Gütern unabhängige Dimension der Gerechtigkeit: die der Verteilung von Anerkennung und Repräsentation. Pablo Hubacher Haerle verweist in diesem Zusammenhang auf ein Team von Ökonominnen, die untersucht haben, wie sich die Besetzung des Bürgermeisterpostens durch Frauen auf die Selbsteinschätzung von Schülerinnen auswirkt. Das Resultat: In den Ortschaften mit Bürgermeisterinnen sind die Mädchen ehrgeiziger und selbstbewusster, und werden von ihren Eltern eher darin bekräftigt, sich ambitionierte und selbstbestimmte Ziele zu stecken.


"Was ist Gerechtigkeit?" auf geschichtedergegenwart.ch


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